Samstag, 31. Dezember 2011

Google Art

Die Suchmaschinen Google Scholar, Google Books oder Google Street View liefern großartige Recherche- und Informationismöglichkeiten, aber Google hat noch eine Vielzahl anderer Spezialsuchmaschinen zu bieten. So überträgt das wenig bekannte Projekt Google Art das Google Street View Prinzip auf die berühmtesten Museen der Welt und ermöglich so Rundgänge durch den Louvre, das MoMa und andere Museen. Die dortigen Kunstwerke kann man in höchster Auflösung betrachten, nur Speichern kann man die Bilder leider nicht.

Freitag, 30. Dezember 2011

Bloodlust von Russell Jacoby


Der Historiker Russell Jacoby hat ein neues Buch mit dem Titel „Bloodlust. On the Roots of Violence from Cain and Abel to the Present“ veröffentlicht. Jacoby steht in der Tradition der Kritischen Theorie und hat einige Bücher zur Geschichte der Intellektuellen in den USA geschrieben. Außerdem versuchte Jacoby immer wieder die Verbindung von Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie zu leisten, wie z. B. in seinem Buch Soziale Amnesie. Eine Kritik der konformistischen Psychologie von Adler bis Laing und in seiner Biografie des Psychoanalytikers Otto Fenichel Die Verdrängung der Psychoanalyse oder der Triumph des Konformismus. Sein neues Buch Bloodlust widmet sich dem gesellschaftlichen Phänomen der Gewalt und liefert dazu Erklärungen, die quer stehen zu denen des Alltagsbewusstseins und inzwischen auch zu denen der Akademie. Jacoby vertritt die These, dass Gewalt nicht entsteht, wenn Fremde aufeinander treffen, unterschiedliche Kulturen sich begegen oder das „Andere“ Unsicherheit und Furcht hervorruft - sondern im Gegenteil: Gewalt ensteht unter Gleichen: unter Nachbarn, unter Freunden und Bekannten und, vor allem, in der Familie.
„We want to believe that the persecuted are outsiders. How else can we explain what happens to them? We find it difficult to accept, that the persecuted are insiders or neighbours; this makes the story more uncomfortable. … The attack-the-foreigner explanation apprehends with ease other genocides. Why did the Serbs murder the Bosnians? Or the Rwandan Hutus murder Rwuandan Tutsis? No need to ask. Mutual hatred, we say. Yet the opposite may be closer to the truth. Serbs and Bosnians, and the Tutsis and Hutus lived together naively, without really knowing or caring who was who - for centuries. In the same way Jews lived in Germany with minimal fuss or notice. However, we prefer the notion of a primal hatred for primal strangers. This is psychologically easier to grasp and requires no introspection.“ (p. 110f)
Jacoby entnimmt der Geschichte Stichproben besonders gewalttätiger Ereignisse: die Bartholomäus-Nacht, Bürgerkriege, die Französische Revolution und die Judenvernichtung im Nationalsozialismus und zeigt an diesen Beispielen, wie gerade die schlimmsten Atrozitäten nicht an Fremden begangen wurden, sondern die Unterschiede der vermeintlich anderen zur Rationalisierung der Gewalt oft erst umständlich hergestellt wurden. Jacoby nutzt dazu das Freudsche Begriffsinstrumentarium, die Analyse des Unheimlichen und den Begriff des Narzissmus der kleinen Differenzen. Damit erreicht er eine Umkehrung der Perspektiven: die Fremden sind nicht mehr die anderen, sondern das eigene Unbewusste und nicht Fremdheit produziert Hass, sondern Gleichheit wirkt bedrohlich auf den Einzelnen. Jacoby liefert im besten Sinne Gegengift, zum kulturalistischen Mainstream, der die Unterschiede von Identitäten und Kulturen als Erklärung für alles mögliche präsentiert - ein unbedingt lesenswertes Buch, dem etwas mehr Aufmerksamkeit auch in Deutschland zu wünschen wäre. Hier kann man einen Blick in das Buch werfen. Zum Schluss ein Wort des Autors über sein eigenes Buch, das der Verlag bei Youtube eingestellt hat:

Mittwoch, 23. November 2011

Georg Kreisler ist tot!

In Memoriam des grossen Kritikers hier ein Text zu seinem 80. Geburtstag.

Und hier ein Lied mit dem kaum zu übertreffenden Satz: "Alle wollen etwas ändern, keiner will die Zukunft wie sie war."

Sonntag, 9. Oktober 2011

Unrealistischer Realismus

James Woods Buch "How Fiction Works" ist dieses Jahr auch auf Deutsch erschienen. Der Autor ist Professor in Harvard und vor allem Literaturkritiker für den New Yorker. Vor allem in letzterer Funktion wird er als der wichtigste lebende Literaturkritiker propagiert und sein Einfluss gerade auf jüngere Schriftsteller scheint immens. So hat die Autorin Zadie Smith, nachdem er ihren Stil als "hysterischen Realismus" bezeichnete, öffentlich Besserung gelobt, sie wolle sich in Zukunft eines anderen Stils bemühen. Auch andere Autoren orientieren sich nach eigener Aussage sehr an James Woods Kritiken (Zum Einfluss von Wood).
In seinem Buch "How Fiction Works" legt er dar, wie Literatur zu sein habe. Seine Lehre beruht vor allem auf zwei Punkten:
1. Statt Ich-Erzähler, besser dritte Perspektive, diese aber ironisierend
2. starke, runde Charaktere

Die Begründung dieser Forderungen kommt allerdings ohne jeglichen Bezug auf gesellschaftliche Verhältnisse und somit auch die historische Konstituierung der Subjekte aus. Sonst würde sich die Frage stellen, ob starke, runde Charaktere heute noch realistisch sind. Gerade dem Rückbezug auf die Gesellschaft müsste Wood sich aber stellen, ist diejenige Literatur, die von ihm das Prädikat 'gut' erhält, doch gerade die realistische Literatur des 19. Jahrhunderts, bzw. modernere Werke, die sich daran orientieren.
Literatur muss sicherlich nicht 'realistisch' sein, es gibt viele andere Möglichkeiten literarischer Produktion. Aber was Wood als Realismus propagiert, ist ein 'Un-Realismus', indem so getan werden soll, als ob das bürgerliche Individuum heute noch existiere. Ein Realismus dessen Rückbindung eine rein ästhetizistische ist, ist kein Realismus mehr.
Und so ist der deutsche Titel seines Buches ("Die Kunst des Erzählens") anders als in deutschen Feuilletons bei jeder Besprechung seines Buches wiederholt, tatsächlich zutreffender als der zweideutige englische: How Fiction Works.
Dass sein Buch in Deutschland bisher in keiner Tageszeitung eine negative Kritik erhalten hat, sondern vielmehr hochgelobt wird, ihm für die Ehrenrettung des Realismus gedankt wird, ist auch ein Indiz für den Zustand des deutschen Literaturbetriebs: Wenn die Krise kommt, ist kritische Literatur nicht gefragt. Zurück ins 19. Jahrhundert als die Welt noch in Ordnung war.

Weiterführende Kritik an Wood findet sich hier:
und hier:

Detlev Claussen über die Dialektik der Aufklärung

Im Schweizer Radio DRS 2 diskutiert DC in der Reihe "Denkstoffe - Aufstieg und Fall großer Theorien"  über die Bedeutung der Dialektik der Aufklärung. Hier geht's direkt zum Audiobeitrag.

Freitag, 7. Oktober 2011

Gedächtnisprobleme der Nation

Guido Knopp und das ZDF präsentieren auf einer Internetseite das sogenannte "Gedächtnis der Nation" - Interviews und kleine Geschichtsfilmchen, im typischen ZDF-Stil. Der Artikel Geschichte schreiben im Jahrhundertbus im Freitag erläutert den Hintergrund. In der Rubrik "Jahrhundertzeugen" findet sich ein langes Interview mit dem Kulturwissenschaftler (!) Herbert Marcuse, der nach ZDF-Informationen 1997 (!) gestorben ist, als einziger Kritischer Theoretiker in den USA blieb (!) und es in Deutschland nie lange aushielt (!). Vielleicht wäre "Vorurteile der Nation" ein besserer Titel für dieses dämliche Projekt gewesen. Das Video von Marcuse aber lohnt sich trotzdem.


Donnerstag, 6. Oktober 2011

Occupy Wall Street

Jon Stuart in der Daily-Show zu den "Occupy Wall Street"-Protesten. Die Kommentare von Fox-News sind, wie immer, unfassbar.

Dienstag, 4. Oktober 2011

Ideologie heute?

In der neuen Online-FAZ schreibt Dietmar Dath einen netten Artikel über den Ideologiebegriff.
"Wenn also jemand, sagt Engels, gegen Microsoft oder Bertelsmann bloggt, die Piratenpartei wählt oder ihr beitritt, weil Information frei sein soll oder das digitale Zeitalter neue Formen von Arbeit erlaubt oder aus sonst einem abstrakten Grund, und dabei nicht sehen oder artikulieren kann, welche Art eigener Praxis - als überausgebildetes, gegenüber den eigenen Eltern jämmerlich unterversichertes, ohne Tarifdruckmittel auf dem Zeitvertrags-Markt unverstandenen Gezeitenkräften ausgeliefertes Würstchen - diese schönen Ideale so plausibel macht, dann liegt Ideologie vor. Das gilt selbst und gerade dann, wenn diese Ideologie sich 'kritisch' vorkommt."

Sonntag, 18. September 2011

AkG-Konferenz zu Europa

Wer am letzten Wochenende im September noch nichts vorhat und etwas über die Krise der EU in Anbetracht von Rechtspopulismus, Schulden und stockendem Integrationsprozess erfahren möchte, sollte nach Frankfurt am Main fahren. Dort organisiert die Assoziation kritische Gesellschaftsforschung (AkG) unter dem Titel "Kämpfe um die institutionelle Struktur der EU in der Krise" vom 29.09. bis 02.10. eine fünftägige Konferenz.
Das Programm ist breit aufgestellt und liest sich eher akademisch als politisch, dennoch könnte es lohnend sein, sich z.B. etwas über Economic Governance, Frontex oder die gegenwärtige Situation in Ungarn anzuhören.
Die Seite der AkG erreicht ihr hier, das Programm der Tagung hier.

Freitag, 9. September 2011

Blog der DGS

Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie betreibt einen Blog, den wechselnd bekannte Soziologen betreiben. Als erstes ist G. Günter Voß an der Reihe und er eröffent den Blog mit einem sehr interessanten Artikel übers Bloggen. Viele gute Tipps und Links. Aber sieht aber auch - die Qualität vieler Blogs ist eher mittelmäßig (man schaue sich die Top-50 Soziologie-Blogs an).

Donnerstag, 8. September 2011

Die Kunst der Freiheit

In Wien gibt es vom 30. September bis zum 2. Oktober eine Konferenz über Adorno und Sartre. Hier ist die Konferenz-Homepage. Tipp: Immer auf das Bild klicken.

Mittwoch, 31. August 2011

Hegel und Haiti

Die Philosophin Susan Buck-Morss hat ein außergewöhnliches Buch über Hegel geschrieben, das nun im Suhrkamp-Verlag auf deutsch erschienen ist: Hegel und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte. Sie zeigt darin wir sehr Hegels Phänomenologie des Geistes in die Geschichte eingebunden ist, und zwar nicht nur in die der Französischen Revolution, sondern auch in die der Schwarzen Jakobiner auf Haiti. Hegel scheint die Ereignisse der Haitianische Revolution sehr genau wahrgenommen zu haben, auch wenn er sich explizit nie darauf bezieht.
Bei Suhrkamp gibt es wieder eine Leseprobe. Im Netz findet man teilweise ganze Kapitel des englischen Originals. Bei Konkret ist der Band zum "Buch des Monats" erkoren worden, leider ist die Rezension aber nicht online zugänglich. In der Zeitschrift analyse & kritik ist eine Rezension veröffentlicht und beim Freien Sender Kombinat aus Hamburg kann man sich eine Besprechnug als Radiobeitrag anhören.

Samstag, 27. August 2011

Die Kulturindustrie und das Militär

Hier findet sich eine ganz interessante Zusammenfassung zur Zusammenarbeit von Pentagon und Hollywood.

Sonntag, 21. August 2011

Joel Sternfeld im Museum Folkwang


Seit dem 16. Juli - und noch bis zum 23. Oktober - ist im Essener Museum Folkwang eine Ausstellung des amerikanischen Fotografen Joel Sternfeld zu sehen. Die Ausstellung konzentriert sich auf Arbeiten, die zwischen dem Ende der 1960er und den späten 1970er Jahren entstanden sind.
Sternfeld ist - neben William Eggleston - einer der Fotografen, die die Farbfotografie als künstlerisches Medium erschlossen haben. Zuvor galt diese als zu grell; Kunst hatte, wenn sie schon die Realität abbildete, in schwart-weiß stattzufinden.
Als Momentaufnahmen amerikanischen (Mittelschicht-) Lebens schaffen es die Bilder Sternfelds, Geschichten darzustellen. Die Mischung aus ironischer Distanz und Nähe zu den abgebildeten Personen finde ich sehr faszinierend.
Mehr zu sehen gibt es auf der Seite des Museums Folkwang und bei Sternfleds Galerie Luhring Augustine. Nach Ende der Ausstellung in Essen sollen die Bilder noch in Paris, Berlin und Wien gezeigt werden.

Donnerstag, 18. August 2011

Party for Jesus

Dass es sich bei der Tea Party lediglich um alten Wein in neuen Schläuchen handelt, ist hier auch mal empirisch bestätigt. Einig sind sich die Tea Party Anhänger vor allem darin, dass der Staat religiöser werden soll.
"The Tea Party's generals may say their overriding concern is a smaller government, but not their rank and file, who are more concerned about putting God in government."
Sie dazu auch cb's post.

Mittwoch, 17. August 2011

Fernsehen statt Kino!

Die Zeitschrift Jungle World druckt in der letzten Ausgabe einen Ausschnitt aus dem Buch „Fernsehen wider die Tabus“ ab, das der Filmwissenschaftler Ivo Ritzer verfasst hat. Abgesehen von den vielen Hinweisen, auf Serien, die man sich vielleicht mal ansehen könnte, liefert der Beitrag eine gute Beschreibung der Diskussion über die Qualität neuer amerikanischer Serien. Diese könnten es inzwischen mit Romanen als Kunstform aufnehmen und überholten das Medium des Kinofilms: Denn Serien können sehr lange Geschichten erzählen, tendenziell hunderte von Stunden lang, und eine Vielzahl von Handlungssträngen können miteinander verwoben eine Komplexität entwickeln, wie es ein zweistündiger Kinofilm niemals könnte.
„Das Kino, heißt es nun, habe ein Problem, das Fernsehen sei die Lösung: ‚Während sich die Studios in Hollywood vom filmischen Erwachsenendrama zugunsten von 3D-Spektakeln, Fantasy- und Videospielverfilmungen verabschieden, wird das Fernsehen zur Zuflucht der Drehbuchautoren, denen ihr Schreiben wichtig ist.‘“
Ritzers These, die expiziten Gewalt- und Sexdarstellungen der Serien würden den Tabubruch in den Mainstream integrieren hingegegen finde ich nicht so überzeugend. „Kulturelle Dissidenz ist zum produktiven Motor eines kulturindustriellen Marktes geworden, der gerade durch seine scheinbare Heterogenität ein Maximum an Homogenität garantiert.“ Das ist sicher prinzipiell richtig, ob es aber das spezifische dieser neuen Kulturform trifft, bezweifle ich - zu viele Beispiele kultureller Produktionen der letzten Jahrzehnte ließen sich finden, auf die dieses Argument ebenso zuträfe.

Donnerstag, 11. August 2011

Kracauer als Journalist


Im Suhrkamp Verlag ist ein neuer Band der Werke Siegfried Kracauers erschienen, der dessen journalistische Arbeit für die Frankfurter Zeitung dokumentiert. Die Artikel können sicher einen guten Zugang zu dem sonst eher sperrigen Werk Kracauers liefern. Suhrkamp hat auch eine kleine Leseprobe ins Netz gestellt und hier finden sich ein paar Rezensionen:
Über allem thront das Warenhaus (Zeit)
Am Grund der Oberfläche (Tagesspiegel)
(An dieser Stelle mal die Frage: Warum macht Suhrkamp eine high-end Werkausgabe von Kracauer und von z. B. Adorno, Marcuse und Lukács sind nicht mal mehr Restexemplare der gebundenen (mittelmäßig editierten) Werkausgaben erhältlich?!)

Dienstag, 9. August 2011

Der Teutschen Broder

Dieser Post ist auch eine sehr späte (wegen langer Abwesenheit) Antwort auf JW's Kommentar zu meinem vorhergehenden Post zu Broders Text "Ihr feigen Deutschen seid alle passiv-aggressiv!".

Nach den Attentaten von Oslo begann in deutschen Medien der Versuch, Henryk M. Broder medial zu diskreditieren. Robert Misik nennt ihn in der taz in einem Atemzug mit Geert Wilders und Christian Strache, Josef Winkler schimpft ihn ebenfalls in der taz eine zynische Kanaille und schreibt, er solle sich sein Auto in den Hintern schieben. In der Blogosphäre wir ihm Borderline attestiert und dass er Antisemitismus nur als Ausrede benutze. Und im Leitartikel der FR schreibt Christian Bommarius besonders perfide:

"Es wäre demagogisch, Broder und andere deutsche Islamophobe zu geistigen Brandstiftern zu erklären und für Breiviks Verbrechen in Mithaftung zu nehmen. Aber richtig ist eben auch, dass Schriften, wie sie Broder verbreitet, das Entrebillett für den aggressiven Antiislamismus bilden, der nicht nur die deutsche, sondern fast alle europäischen Gesellschaften befallen hat. Spätestens nach den Morden Breiviks empfiehlt sich dringend verbale Abrüstung."
Über die Absurdität Broder zum geistigen Ideenlieferanten für Breivik abstempeln zu wollen, will ich hier keine Worte verlieren. Was an dieser sogenannten 'Debatte' aber einmal mehr deutlich wird, ist die Abschottung der kommentierenden Klasse gegen Kritik. Statt sich mit den Texten Broders auseinanderzusetzen, wird auf die Person Broder eingehackt. In diesen Texten, nicht in den Texten Henryk M. Broders, ist der Anti-Intellektualismus zu finden, den JW in seinem Kommentar an Broder beklagt. Mit seinen Texten findet keine Auseinandersetzung statt, höchstens wird mal ein Zitat aus dem Zusammenhang gerissen oder ihm etwas vorgeworfen, was er gar nicht gesagt hat. So wendet er sich in dem von mir verlinkten Text Broders über die Funktionalisierung von Moral mit keinem Wort gegen die Menschenrechte. Wogegen er sich wendet, ist vielmehr, gegen die Funktionalisierung von Menschenrechten und Moral fürs Ressentiment. Er beklagt nicht, dass auf die Menschenrechte gepocht wird, sondern dass nur selektiv drauf gepocht wird. Broder schreibt:

"So bricht in Deutschland eine Debatte über das Völkerrecht aus, wenn die Amis einen Massenmörder zur Strecke bringen, ohne ihn vorher darüber aufzuklären, dass alles, was er sagt, gegen ihn verwendet werden kann. Wenn aber ein Kinderschänder, der seine Strafe verbüßt hat, nicht in Sicherungsverwahrung genommen, sondern entlassen wird, bildet sich sofort eine Bürgerinitiative, die von der Polizei mit viel Mühe davon abgehalten werden muss, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen.Denn dabei handelt es sich nicht um einen Fall von Menschen- oder Völkerrecht, sondern um den Erhalt des dörflichen Idylls im Hunsrück oder in der Eifel, jedenfalls um ein Stück Lebensqualität, etwas, wovon die Amis, wie man schon an ihren Essgewohnheiten erkennt, sowieso keine Ahnung haben. Denen geht es nur um Geld, Macht und Profit."

Statt die von Broder eingeforderte Selbstreflexion zu leisten, ist es selbstverständlich einfacher auf den Kritiker einzuhacken, ihn als 'Islamkritiker', Wilders-, Strache-, Sarazin-Freund abzustempeln und somit jeder Auseinandersetzung mit seinen Texten zu entgehen. Broder 'ist eben keiner von uns' und Benehmen kann er sich auch nicht, beschimpft Zuhörer als "Arschloch". Erstens kann ich ihm das gut nachfühlen, insbesondere Angesichts der Beschimpfungen und Morddrohungen die er sich seit Jahren anhören muss und zugeschickt kriegt. Vor allem aber frage ich mich, was das mit seinem Text zu tun haben soll?
An dieser Stelle sei deshalb nochmals Broder das Wort gegeben.

Sonntag, 7. August 2011

Feminism and the politics of identity

The recent Eurozine carries an interesting article by Rita Chin titled "Turkish women, west German feminists, and the gendered discourse on Muslim cultural difference". Well, the central thesis is not really all that new. The author shows systematically - albeit rather simply - how the recent proliferation of discourses regarding the alleged Muslim threat to the modern, supposedly Judeo-Christian, European identity embroils the earlier feminist and progressive anxieties about the fate of the immigrant woman. In other words, how European identity politics implicates feminism and its assumptions. This bears resonance with one of the central debates within Indian feminism.

The repeal of the Personal Laws, or communal civil codes for different religious communities that were initially framed in the colonial times and the establishment of a modern Uniform Civil Code (UCC) had been a central demand of the Indian feminists right from the seventies. This tenet is also enshrined as a guiding principle in the Indian Constitution, and thus seemed to be above the political fray. The feminist demand therefore had a liberal but somewhat harmless character that matched its primarily urban and upper caste milieu. But all that changed in the 1980s as the demand for the UCC became one of the favorite slogans of the Hindu nationalists. They raised it strategically to help construct an Islamophobic narrative, where the Sharia-based Muslim Personal Law was depicted as one more evidence of the systematic appeasement of the Muslims by the ruling elite (read the Congress party) in postcolonial India. This cooptation from the Hindu Right of their cherished ideal, which had earlier appeared uncontestable due to its modernist credentials and unrealizable due to the straggling premodernity of the Indian politics, unhinged the feminist movement in India and split it into pro-UCC and anti-UCC factions. Here is an article by Flavia Agnes from the early nineties which presents a critique from the latter position of the left-liberal assumptions of the Indian feminism.

Montag, 1. August 2011

Soziologie ist ein Kampfsport

Eine sehr schöne Dokumentation über Pierre Bourdieu (1930-2002) aus dem Jahr 2001. Das Soziologiemagazin weist anlässlich seines 81. Geburtstages darauf hin.

Donnerstag, 28. Juli 2011

Kreation und Depression

Das Buch „Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus“ von Christoph Menke und Juliane Rebentisch präsentiert eine Sammlung von Beiträgen, die versuchen, sich begrifflich der gegenwärtigen Form des Kapitalismus anzunähern oder wie es die Herausgeber formulieren:

„Im Zentrum des Bands steht ein Befund gegenwärtiger Gesellschaftskritik: Eigenverantwortung, Initiative, Flexibilität, Beweglichkeit, Kreativität sind die heute entscheidenden gesellschaftlichen Forderungen, die die Individuen zu erfüllen haben, um an der Gesellschaft teilnehmen zu können. Sie haben das alte Disziplinarmodell der Gesellschaft ersetzt, ohne dabei freilich die Disziplin abzuschaffen. An die Stelle einer Normierung des Subjekts nach gesellschaftlich vorgegebenen Rollenbildern ist der unter dem Zeichen des Wettbewerbs stehende Zwang zur kreativen Selbstverwirklichung getreten. Man gehorcht heute nicht mehr, indem man sich einer Ordnung unterwirft und Regeln befolgt, sondern indem man eigenverantwortlich und kreativ eine Aufgabe erfüllt. Im Blick auf häufig wechselnde ‚Projekte‘ sollen die Einzelnen ihren eigenen Neigungen folgen, um sich jeweils ganz – mit allen Facetten ihrer Pers önlichkeit – ‚einzubringen‘. Es scheint, dass sich Einstellungen und Lebensweisen, die einmal einen qualitativen Freiheitsgewinn versprachen, inzwischen so mit der aktuellen Gestalt des Kapitalismus verbunden haben, dass daraus neue Formen von sozialer Herrschaft und Entfremdung entstanden sind.“ (S.7)

Mittwoch, 27. Juli 2011

Neues von den Evangelikalen?

Marcia Pally – Kulturwissenschaftlerin und regelmäßige Kolumnistin in der Frankfurter Rundschau hat ein Buch über die „Neuen Evangelikalen“ in den USA geschrieben. Die Rezension auf hsozkult.de klingt zunächst auch ganz spannend: Neben einem historischen Überblick über die Evangelikale Bewegung in den USA, der sich insb. ihren politischen Bestrebungen widmet; und einem längeren Exkurs über das Verhältnis von Staat und Kirche ist der Kern des Buches eine Sammlung von Interviews mit verschiedenen Vertretern des liberalen Flügels der Evangelikalen.

Problematisch an Pallys Buch scheint der Versuch, zu zeigen, dass auch religiöse Bewegungen einen Beitrag zur politischen Liberalisierung leisten können (die FAZ spricht von message overkill). Hierfür hätte Pally auch ein Verweis auf die Anfänge der Evangelikalen Bewegung gereicht, die sich stark gegen Sklaverei und Rassentrennung, für soziale Hilfsleistungen usw. eingesetzt hat. Auch im 20. Jhdt. gab es schon eine Bandbreite von evangelikalen Gruppierungen, die nicht mit dem hegemonialen Bild der christlichen Rechten übereinstimmten (u.a. gibt es seit Jahrzehnten Zusammenschlüsse evangelikaler Homosexueller). Insb. vor dem Hintergrund eines historischen Abrisses der evangelikalen Bewegung in den USA überrascht Pallys Ansinnen ein wenig: schon auf Grund der Pluralität religiöser Formen in den USA und des mangelnden Schutzes durch den Staat, der zwar Religion per se als wichtig anerkennt, jedoch keine einzelne Kirche zur Staatskirche macht, waren di verschiedenen Denominationen auf einen offenen Wettbewerb um Mitglieder und die Anerkennung demoratischer Umgangsformen angewiesen. Hier mag auch Pallys Exkurs zum Verhältnis von Staat und Kirche, der sich – so die Rezension – sehr stark auf Europa bezieht zur Verzerrung beitragen.

Interessant scheint mir v.a. das Interviewmaterial, denn das offene Bekenntnis zu liberalen Zielen, wie es sich im Evangelical Manifesto von 2008 äußert – und das einer der Ausgangspunkte des Buches ist – scheint schon anzuzeigen, dass sich etwas tut in der evangelikalen Landschaft.

Was im Buch jedoch zu fehlen scheint ist ein Verweis auf die Tea Party Bewegung, die m.E. gar nicht mehr darauf hinzuweisen braucht, dass sie evangelikal/christlich ist und einen großen Teil des – vormals in der New Christian Right aufgehenden – konservativen Ressentiments auffängt.

(Dass gerade Pally den Versuch macht die Religion als Teil einer liberalen Agenda zu präsentieren, überrascht ein wenig in Anbetracht ihrer Beiträge in der Frankfurter Rundschau, da sie sich dort oft große Mühe zu geben scheint, der linksliberalen Leserschaft zu bestätigen was sie eh schon über die USA weiß.)

Montag, 18. Juli 2011

Adorno vs. Gehlen

Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen in einem TV-Steitgespräch aus dem Jahr 1965. Leider ist die Qualität sehr schlecht. Das Thema lautet: Institution und Freiheit.

Gehlen: Ja, ich würde nicht einmal sagen, Herr Adorno, ich gebe Ihnen das zu, nicht wahr, die Normen, die Einstellungen, die Vorstellungen, die in diesen Institutionen sozusagen auf alle verteilt sind, die leben auch in jedem Einzelnen, unmittelbar, nicht wahr, dann darin, das ist richtig und das kann man untersuchen. Das sie nun gleich ihm von innen her als eine fremde und bedrückende Macht entgegentreten, würde ich gar nicht mal ohne Weiteres unterstellen, das kann vielleicht vorkommen unter besonderen Umständen...

Adorno: Ja, nicht ohne Weiteres, aber mit Weiterem.

Soziologisches Streitgespräch Adorno vs. Gehlen 1965 from Berenike Eimler on Vimeo.

Donnerstag, 14. Juli 2011

Bon 14 Juillet!


"Solange die Sonne am Firmament steht und die Planeten um sie kreisen, war das noch nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, d. i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. Anaxagoras hatte zuerst gesagt, das der nous, die Vernunft, die Welt regiert; nun aber ist erst der Mensch dazu gekommen, zu erkennen, daß der Gedanke die geistige Wirklichkeit regieren solle. Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen." (Hegel, Vorlesungen über Philosophie der Geschichte, stw, p. 529)

Dienstag, 12. Juli 2011

Andrei S. Markovits - Die Feminisierung eines globalen Sports

Der Politikwissenschaftler und Soziologe Andrei S. Markovits hält einen sehr schönen Vortrag über Gender und Sport vor dem Hintergrund der Frauen-Fußball-Weltmeisterschaft - mit einem Blick auf historische und transatlantische Differenzen. Mein Eindruck ist allerdings, dass er mehr Fragen aufwirft als Antworten zu geben, was den Vortrag aber nicht weniger interessant macht. Hier hat die Böll-Stiftung den Vortrag zum Anhören dokumentiert.

Bewegte Bilder

Hier eine m.E. sehr gut gemachte Gegenüberstellung der Arbeiten von Stanley Kubrick und Martin Scorsese. Auch wenn die Gegenüberstellung den Anschein erweckt beide Regisseure seien sich sehr ähnlich, finde ich die Reduktion auf kurze Szenen, Bildaufbau, Kameraeinstellungen - also die visuellen Momente des Kinos - klasse. Wenn es im Kino nur um die Stories ginge könnte man sie auch aufschreiben...

Montag, 11. Juli 2011

"Das Sich-nicht-Einmischen ist etwas, das man als urbane Tugend bezeichnen kann"

Etwa einen Monat nach dem Gentrifizierungspost fand sich in der NZZ diese Interview mit Jan Wehrheim, Soziologe in Oldenburg und Hamburg, zum selben Thema. Die Unaufgeregtheit, mit der er die Schattenseiten als notwendigen Teil städtischen Lebens annimmt, finde ich erst einmal sehr sympathisch. Vor allem, wenn in den Kommentaren zum Artikel die Sorge um den Müll die größte ist oder versucht wird, der von Wehrheim angeführten "resignierten Toleranz" zu unterstellen, sie sei bereit jede Gewalttat in der Öffentlichkeit hinzunehmen.
Spannend finde ich auch den Hinweis darauf, dass die zunehmende Kontrolle des öffentlichen Raums mit einer zunehmenden Heterogenität der Städte einhergeht - und es ist hier gerade nicht gemeint, dass z.B. Migranten, randalierende Jugendliche o.ä. die Kontrollen notwendig machten, sondern, dass es die zunehmend in den innerstädtischen Raum ziehenden Mittelschichten sind, die nach ihnen verlangen (z.B. um von Müll unbehelligt um den Zürich-See joggen zu können, wie es einer der Kommentatoren einfordert). Gleichzeitig ist damit von Wehrheim impliziert, dass die Segregation von Städten zwar umfassender wird, nicht jedoch, dass sie neu sei. Während früher Bürger durch die Innenstädte flanierten und das Proletariat in den ihm zugewiesenen Vierteln blieb, werden die Innenstädte jetzt zum Begegnungsort vermeintlich inkompatibler Lebensentwürfe.
Dass mit dem Versuch, dieser Konflikte durch Überwachung, Kriminalisierung und Verdrängung Herr zu werden, auch das produktive Moment städtsichen Lebens verdrängt wird, ist der Kern des Interviews.

Sonntag, 10. Juli 2011

Alain Ehrenberg - Das Unbehagen in der Gesellschaft


Der französische Soziologe Alain Ehrenberg hat vor schon zwölf Jahren mit seinem Buch „Das erschöpfte Selbst“ die These formuliert, dass Subjektivität heute durch eine depressive Struktur gekennzeichnet sei und eher an Verantwortung und Freiheit leide als an Verbot und Autorität. Diese These ist inzwischen in den Common Sense eingegangen und nicht selten wird sein Buch zum vermeintlichen Beleg einer diffusen Zeitdiagnose herangezogen. Trotzdem ist die Frage, wie Freiheit und Repression sich in neuen Formen von Subjektivität ergänzen, zentral für die Analyse der neuen Gesellschaft. Nun hat Ehrenberg das Thema in einem 500 Seiten Werk mit dem Titel „Das Unbehagen in der Gesellschaft“ erneut aufgegriffen und analysiert es in einer transatlantischen Perspektive.

Der Tenor des Feuilletons ist ambivalent, hier eine Zusammenstellung der Rezensionen:

Jammern auf hohem Niveau (FR)
Leiden gehört zur Demokratie (Taz)
Vom Zwang, ein Ich zu sein (SZ)
Die Schwierigkeit, gesund zu sein (NZZ)

Der Suhrkamp-Verlag hat eine recht lange Leseprobe auf seine Seite gestellt, die man hier einsehen kann.

Sonntag, 3. Juli 2011

Freud's English discontents

This is principally in response to st's post Seekrank über den Atlantik: Freud auf Englisch.

The malaise of Freud's English translations, if it is to be addressed as such, is actually of a much shorter passage within the Old World. James and Alix Strachey, the famous British psychoanalyst couple (although Alix was born in the US, she’d studied in Britain) started translating Freud at his request in Vienna, and are still considered to be the translators of the most complete Freud edition in English. The effective political/intellectual context for Freud’s English translations is the fascinating – productive even though complicated – encounter between the Bloomsbury Group and Freudian psychoanalysis that began in the years preceding the First World War and continued into the twenties. The correspondence between the Stracheys from the mid-twenties provides an interesting insight into the early English absorption of psychoanalysis.

But, James Strachey also happens to be the much revered general editor of the Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud, and the irony is that his initial editorial selections form the basis for many of the modern German language Freud editions, viz. the Studienausgabe.

Freitag, 1. Juli 2011

Konferenz-Dokumentation: Traditionalität und Aktualität. Zur Aufgabe kritischer Theorie

Im März fand in Marburg eine Konferenz aus Anlass des 100. Geburtstags von Heinz Maus statt - ein in Vergessenheit geratener Marburger Soziologe, der irgendwo zwischen Marxismus und Kritischer Theorie einzusortieren wäre. Insider kennen ihn als Herausgeber soziologischer Standardwerke im Luchterhand-Verlag (Marcuse, Löwenthal, Mannheim usw.).


Die Konferenz nahm aber Maus Geburtstag eher zum Anlass die Kritische Theorie auf ihre Aktualität hin zu befragen, zusammen mit unterschiedlichen Vertretern dieser Theorietradition. Die Konferenz stieß auf großes studentisches Interesse und es wurde lebhaft und kontrovers diskutiert - wer nicht dabei war kann die ganze Konferenz nun im Internet nacherleben und zwar hier.
Organisiert wurde die Tagung übrigens, wie sollte es anders sein, nicht vom Marburger Institut für Soziologie, sondern von einer studentischen Initiative.

Seekrank über den Atlantik: Freud auf Englisch

Beim Versuch Studierenden in der Türkei die Grundlagen der Psychoanalyse zu vermitteln, bin ich auf unerwartete Schwierigkeiten gestossen. Der englische Text von "Das Unbehagen in der Kultur" ist bereits im Titel abgeschwächt: "Civilization and its Discontents". Unzufriedenheiten und Unbehagen sind schon ein ziemlicher Unterschied. Jetzt ist mir klar, warum Löwenthal sich mit 'Malaise' behalf. Aber damit nicht genug. Wenn Es mit "id", Ich mit "Ego" und Über-Ich mit "Super-Ego" übersetzt wird, dann ändert die Psychoanalyse ihren Charakter. Durch die lateinische Übersetzung werden die psychoanalytischen Begriffe in eine distanzierte, wissenschaftliche Sphäre gehoben, ihr alltagssprachlicher Ursprung wird verleugnet und die Begriffe von alltäglicher Erfahrung abgeschnitten. Wir sagen ja "Es hat mich überkommen", oder "Es hat mich getrieben", nicht "id hat mich überkommen". Wir sagen "Ich liebe dich", nicht "Ego liebe dich" oder gar "Ego liebt dich", was dann schon an Robotersprache erinnert. Genausowenig hat das Über-Ich mit Superman zu tun, mit dem "Super-Ego" doch unweigerlich assoziiert wird. Vor diesem Hintergrund gewinnt dann auch die Übersetzung von Trieb mit "instinct" nochmal eine andere Bedeutung, jenseits dessen, das sie kreuzfalsch ist. Hier, genau wie mit "id, ego, super-ego" geht es letztlich darum, die Psychoanalyse zu entschärfen. Diese Begriffe bewegen sich in der gleichen Sphäre wie physikalische Weltbeschreibungen, sie sind Hilfskonstruktionen von Wissenschaftlern, verschrobenen Köpfen, die nach gängiger Meinung im normalen Leben nicht zurechtkommen. Indem die Psychoanalyse in diese Sphäre gerückt wird, erscheint sie bloss noch als interessante Theorie, mit dem Alltag jedes Einzelnen, an den sie doch gerade anknüpft und aus dem sie ihre Kraft zieht, hat sie nichts mehr zu tun.

Interview mit Dan Diner zur arabischen Revolution

Noch vor einiger Zeit hat Dan Diner ein Buch mit dem Titel "Versiegelte Zeit: Über den Stillstand in der islamischen Welt" veröffentlicht. Hier nun ein Interview mit ihm zum Arab Spring - sympathisch auch der Publikationsort.

Montag, 27. Juni 2011

Chinas Neue Linke

In der letzten Ausgabe der Jungle World findet sich eine Analyse der Positionen von einigen bedeutenden chinesischen Universitäts-Intelektuellen (keine Dissidenten!), die offenbar unter dem label "Neue Linke" zusammengefasst werden. Eine gute Einführung, die Ideen zum Weiterlesen macht. Hier findet man den Beitrag von Felix Wemheuer.

Sonntag, 26. Juni 2011

Tell Me Something I Don't Know

Da sag' nochmal einer, man könne heutzutage keine guten Musikvideos mehr drehen - enjoy!

Montag, 20. Juni 2011

Clearing the fogs of history


For those who have been waiting with bated breath for the sequel to Amitav Ghosh's Sea of Poppies or the second installment of his putative Ibis Trilogy, the early arrival of River of Smoke is good news indeed.

This trilogy explores the fascinating but woefully under-researched history of the so-called Opium Wars in the mid-nineteenth century. It is virtually unknown that India became the largest producer and exporter of opium under the British rule in the nineteenth century and that in large measure this financed the British Raj. The participation of Indians in the opium trade and the Imperial deployment of the Indian soldiers in the war against China is almost never discussed, especially in India. On this tragic enmeshing of Indian and Chinese histories, the silence of the Imperial and postcolonial histories is indeed deafening. The British Imperial triangulation of India and China in the Opium Wars constitutes a significant chapter in the complicated history of colonial modernity, another tenebrous moment in the dialectic of Enlightenment.

Freitag, 17. Juni 2011

So viel Urlaub! Cees Nooteboom, Tourist


"Eines Tages habe ich meinen Rucksack gepackt, Abschied von meiner Mutter und den Zug nach Breda genommen, mich an der belgischen Grenze an den Strassenrand gestellt und den Daumen hochgestreckt. Und ich bin eigentlich nie mehr zurückgekehrt."

Und Cees Nooteboom reist immer noch, auch mit inzwischen fast achtzig Jahren. Warum? Einerseits lebt er davon. Zwar möchte er gerne als Dichter anerkannt werden, bekannt ist er aber vor allem als Reiseschriftsteller, besonders in Deutschland, dem Land seiner grossen Erfolge. Hier ist der Niederländer Nooteboom in den letzten Jahrzehnten zum meistgelesenen Reiseschriftsteller avanciert. Aber solch niedere, pekuniäre Motive sind eines Schriftstellers selbstverständlich nicht würdig. Nooteboom antwortet selbst auf die Frage, warum er reist, so auch im Buch"Geflüster auf Seide gemalt. Reisen in Asien", in dem Texte aus vier Jahrzehnten (70er-00er) versammelt sind. Letztlich kreist jeder dieser Texte, obwohl aus so verschiedenen Zeiten, um die eine Frage, warum Mijnheer Nooteboom reist. Immer wieder stellt er die Frage auch explizit und die Antwort bleibt sich stets gleich,

Donnerstag, 16. Juni 2011

Marx-Mode

An der Humboldt-Universität fand Ende Mai eine große und internationale Marx-Konferenz statt mit dem Titel „Re-Thinking Marx. Philosophie, Kritik, Praxis“. Eine Fragestellung oder thematische Eingrenzung jenseits des Titels hatte die Konferenz nicht. Viele internationale Stars waren dabei - Balibar, Sassen, Honneth usw. Sowohl das Programm der Tagung als auch die meisten Konferenzberichte vermitteln den Eindruck einer überakademisierten und kaum an Gesellschaft und Geschichte interessierten Wissenschaftskonferenz. Hier eine Auswahl von Berichten über die Veranstaltung, die sehr gut besucht war und in vielen Zeitungen besprochen wurde:
Dass eine Marx-Konferenz so ein großes Interesse hervorruft, kann ein Hinweis darauf sein, wie groß das Interesse wäre eine kritische Gesellschaftstheorie des 21. Jahrhunderts aufzubauen. Die kritischen Konferenzberichte hingegen zeigen, wie wenig Jaeggi, Honneth und Co. dieses leisten.
Immerhin mindestens einer hat einen guten Vortrag gehalten: Moishe Postone spricht über "Marx's Critical Theory of Capitalist Modernity" - hier kann man den Vortrag online anhören.

Broder zur Funktionalisierung von Moral

Einfach weil's so schön ist, auch wenn hier mit etwas Verspätung: Henryk M. Broder zur anti-amerikanischen Moralisierung und dem Deutschen Gemüt, bzw. "Ihr feigen Deutschen seid passiv-aggressiv!". Humorlosigkeit hat er noch vergessen, wie diese Reaktion zeigt, die ansonsten Broder nur bestätigt.

Montag, 13. Juni 2011

Der Fussballstar als Sachbearbeiter: Zur 'Amerikanisierung' des Fussballs

Die Fussballsoziologie hat lange essentialistisch verbrämt behauptet, dass Sport der einzige Bereich moderner Massenkultur sei, in dem Amerika nicht führe. Denn in Amerika werde doch American Football, Basketball und Baseball gespielt, etwas Hockey noch, aber nicht Fussball. Auch die Tatsache, dass Fussball schon lange der meistgespielte Sport Amerikas ist, hat daran kaum was geändert. Schliesslich kucke kaum jemand Fussball in Amerika, es sei dort eben kein Zuschauersport. Die Sportsoziologie schielte auf die einzelne Sportart, statt auf die gesellschaftsspezifische Struktur sportlicher Praxis.
Dann kam Klinsmann.

Freitag, 10. Juni 2011

Wer ist Schuld an der Gentrifizierung?

Dass in Frankfurt die Mieten hoch sind und – trotz Immobilienkrise – weiter steigen werden, dass es sich trotz riesigen Leerstands immer noch lohnt Bürogebäude zu bauen und dass v.a. in den Wohnvierteln rund um die Innenstadt neue Mietergruppen (Doppelverdiener, 1,4 Kinder, akademische Ausbildung, weiß) zuziehen, alte Bewohnergruppen verdrängt werden und immer neue und doch immer die gleichen Bars, Boutiquen und Bioläden aufmachen; kurz gesagt, dass die Gentrifizierung hier im vollen Gange ist, ist nicht wirklich neu und – auch in Anbetracht einer schwarz-grünen Stadtregierung – auch nicht unbedingt überraschend. Grund zur Kritik ist es allemal.

Dienstag, 7. Juni 2011

WAHRHEIT – KUNST – GESELLSCHAFT. ADORNO HEUTE

Am Institut für Philosophie an der Universität Oldenburg findet Ende Juni eine Adorno Tagung statt mit dem Thema Wahrheit - Kunst - Gesellschaft. "Ein Up-date des Erkenntnisgewinns, den Adornos Denken heute bietet, steht an. Dies um so mehr, als die Notwendigkeit einer sich nicht in Sozialtechnologie erschöpfenden Theorie der Gesellschaft immer evidenter erscheint. Die Tagung will einen Beitrag dazu leisten."
Die Tagung ist thematisch breit aufgestellt und die Beiträge gruppieren sich eher lose um das Thema Kunst - aber man kann sicher ein paar spannende Vorträge hören, denn das Motto lautet: "Der noch heute provozierende Gehalt von Adornos Denken erweist sich aber vor allem in der materialen Analyse."
Das Programm gibt's hier.

Montag, 6. Juni 2011

The spring of academic comparisons

The latest Eurozine carries a short essay by Seyla Benhabib titled “The Arab Spring: Religion, revolution and the public sphere". It is a rather predictable but not uninteresting take on the recent world-historical events unfolding in North Africa and West Asia. Well, it is not as though she's able to offer any illuminating insight into these events, but it is the mode of argumentation that I believe is telling.

The Yale professor begins her essay with a curious comparison. Redeploying perhaps the most classical of metaphors, she claims, “[...] new shoots of resistance are sprouting out of the frozen soil […]," while comparing the striking public sector workers in Wisconsin with those protesting for democracy continents away. But, the very next sentence points out some of the fundamental distinctions, undermining the very grounds of that comparison. The question then is: What prompts an influential academic like Benhabib to enter into such obviously tricky terrain of problematic and untenable comparisons?

Now, this reminds me of Detlev Claussen's insight into academia's relationship with politics (and I am not quoting him verbatim): It is often the least political of academicians who rehearse the most audacious gestures that merely mimic the form of the political.

Handy Tool!

This should be read as a response to DV's previous posting titled “Der postheroische Charakter”. I have been thinking about this postheroisch business. To be fair, Dornes (2010: 1009) does offer other terms in a footnote: "postpatriarchalisch (Kilian 1995), postkonventionell (Whitebook 1995), postautoritär (Honneth 2009)," which I believe are more-or-less problematic for their own reasons.

But, postheroisch has a sort of familiar ring to it. Turns out, it’s a term coined by Charles Handy, a management Guru of some repute and has been in circulation in management literature for some time now. This I believe affords an ironic reflexivity to Dornes’ thesis. Whatever be the Erziehungspraktiken that might have assisted his formation, his propensity to deploy post-“linguistic turn” academic vocabulary of this kind has much more to do with how labor is organized in the age of “flexible accumulation”. Thus, it is not for nothing that flexibility is the central figure in his construction of the postheroische Charakter.

Sonntag, 5. Juni 2011

Der postheroische Charakter

Der Soziologe und Psychoanalytiker Martin Dornes (Institut für Sozialforschung, Frankfurt) greift in seinem aktuellen Essay „Die Modernisierung der Seele“ in der Zeitschrift Psyche eine Frage auf, die in umfassender Form zuletzt von Adorno und seinen kalifornischen Kollegen im Rahmen der Studies in Prejudice bearbeitet wurde: Die Frage nach der epochentypischen psychischen Grundverfassung der gegenwärtigen Gesellschaft. Wie Subjektivität in der Gegenwart beschaffen ist, ist eine der zentralen Fragen der Soziologie und zugleich kaum bearbeitet. Dornes hat den Mut, diese Frage zu stellen und sie umfassend zu beantworten - das allein verdient Anerkennung.

Dornes beschränkt sich methodisch zunächst auf die Frage, wie sich die Vermittlung von Subjektivität durch Erziehung verändert hat und konstatiert hier einen Wandel zu einem „verhandlungsbasiertem Erziehungsstil“, der nicht mehr zu Gehorsam und Unterordnung führen soll, sondern Selbstständigkeit zum Erziehungsziel erklärt. Resultat dieses Erziehungsstils ist ein Charaktertypus, den Dornes als postheroisch bezeichnet und welcher durch eine ambivalente Struktur aus Freiheit und Verletzlichkeit charakterisiert ist. Der Typus heißt „postheroisch“, weil er sich „von einer ‚heroischen‘ Unterdrückung eigener Impulse ebenso verabschiedet hat wie von einem heroischen Aus- und Durchhalten einmal getroffener (Lebens-)Entscheidungen“ (p. 1009). Dieser neue Charakter ist „entkrampft“ und kann innere Widersprüche deutlicher wahrnehmen und zwischen den psychischen Instanzen sensibler vermitteln (Dornes spricht von einer „kommunikativen Verflüssigung des psychischen Apparats“). Gleichzeitig produziert diese „Entkrampfung“ auch ein höheres Maß an Unsicherheit und „Störanfälligkeit“.

Mittwoch, 1. Juni 2011

Is It Still Possible to Be a Hegelian Today?


Slavoj Zizek macht die Hegel-Lecture im Dahlem-Humanities-Center. Irgendwie erzählt er meist nichts Neues und hinter den Effekten verbirgt sich wohl wenig Substantielles - aber unterhaltsam ist er irgendwie immer und passt super in einen Blog mit dem Titel „Critical Entertainment“. Hier kann man das Video ansehen.

Montag, 30. Mai 2011

What's left of the Indian Left?

Recently, history was made, or unmade as some would have it, by the electorate in the northeastern Indian state of West Bengal. The ruling Left Front was defeated after an astonishing thirty-four year tenure. However delicious, this Indian anomaly of a democratically elected Communist Government is by now a stale tale. (But if you still want to know more about it, here is a interesting take on the underlying reasons for the colossal debacle of the Left Front.)

However epoch-making the election, what interests me is the response of a motley group of leftist activists and intellectuals, who claim that the defeat of the real-existing-socialism type Old Left “should mean space for a stronger left movement, a ‘new left’ if you like, that reflects the aspirations of the mass of people more creatively, with more imagination and greater integrity”. Time is indeed out of joint here! But, this is indeed the case; this is a response from the old New Left, or the non-parliamentary Left in India.

That there’s a response is not surprising. Well, nothing should surprise one in this case: the tone of moral superiority, the deafening silence on the complicated relationship – the discontinuous dialogue if you like - between the parliamentary, Stalinist Left and the non-parliamentary Left. Is it at all possible to speak of two spaces, without overlaps and seepage? For instance, in what space does one support, vote for and sometimes actively campaign for the Stalinist parties with the completely justified aim of defeating the Hindu nationalists?

Besides, for those who claim an abiding space in the society for “the left as a culture of democracy and resistance,” isn’t it simply undialectical to state, “Votes have never been a real marker of the strength of a political movement and its culture”?

Sonntag, 29. Mai 2011

Adornos Kritik der politischen Ökonomie


Die Frankfurter Rundschau rezensiert ein neues Buch über Adornos Kritik der politischen Ökonomie. Es handelt sich dabei um die Dissertation von Dirk Braunstein, der als Herausgeber der nachgelassenen Schriften Adornos arbeitet.
„Braunstein gelingt es, das hartnäckige Vorurteil zu zerstreuen, dass sich Adorno nicht ernsthaft mit Fragen der Ökonomie beschäftigt habe. Daraus wiederum schließt er nicht, dass die Früchte dieser kontinuierlichen Beschäftigung immer überzeugend sind. Bei der Lektüre des Buchs, das zu einem guten Teil auf der akribischen Auswertung von noch unveröffentlichtem Archivmaterial beruht, gewinnt man den Eindruck, dem prominenten Theoretiker gleichsam bei der Verfertigung seiner Gedanken zuhören zu können. Man spürt, wie sich Adorno vortastet, dann wieder seiner Neigung zu schrillen Thesen nachgibt, um später rückblickend diese Thesen als allzu ‚unbekümmert‘ abzuschwächen.“
Der Rezensent unterstellt Adornos Ökonomiekritik theoretische „Unsicherheiten“, die mir eher der Widersprüchlichkeit des Gegenstandes geschuldet erscheinen - wenn dies auch auch der Tenor des Buches ist, verstellt sich der Autor vermutlich einige Einsichten. Die Auswertung von Archivmaterial zu diesem Themenkomplex klingt allerdings vielversprechend und das Inhaltverzeichnis wirkt angenehm unakademisch. Ein früherer kurzer Text Braunsteins zum gleichen Thema findet sich hier.

Sonntag, 22. Mai 2011

Medvedev vs. Putin

Pudev or Medin, who cares? (Washington Post)

Freitag, 20. Mai 2011

Europa Universalis: Geschichte als Computerspiel

Der englische Historiker Niall Ferguson hat ein neues Buch mit dem Titel "Civilisation: The West and the Rest" geschrieben. Bei diesem Titel kann es sich ein Journalist der NZZ nicht verkneifen, Ferguson im Interview zu fragen, ob Geschichte denn einem Computerspiel gleiche, nämlich dem bekannten Spiel "Civilisation".
Ferguson antwortet: Geschichte gleiche sicherlich eher einem Computerspiel als einem Roman, da das Ende nicht schon im vorhinein feststehe. Aber selbstverständlich sei ein Computerspiel eine Simplifizierung auf einige wenige Faktoren.
Im weiteren Verlauf des Interviews glänzt Ferguson allerdings selbst durch Simplifizierung. Ihm geht es darum den Aufstieg des Westens zu begründen. Und dieser sei bedingt durch sechs "killer apps" des Westens: competition, science, democracy, medicine, consumerism and the work ethic. Diese hätten es dem armen Westeuropa ermöglicht zu weltweiter Dominanz aufzusteigen. Als der Reporter einwendet, das sei doch schon eine Simplifizierung, sagt Ferguson er zähle doch immerhin sechs "killer apps" auf, die meisten Historiker würden nur zwei sehen. Sein Bild sei also wesentlich komplexer.

Ferguson, der sagt er habe mit seinem Sohn "Civilisation" gespielt, scheint keine wirkliche Ahnung von Computerspielen zu haben. Sechs Faktoren sind da locker dabei. Man sollte sich selbstverständlich an die avancierteste Variante halten. Bei historischen Strategiespielen steht dafür im Moment nicht Civilisation, sondern Europa Universalis 3. Hier spielt der Spieler irgendein Land der Welt (Timurids oder Irokesen genauso wie Florenz oder Frankreich). Er investiert Geld in die Erforschung verschiedenster Felder (Government, Production, Trade, Naval, Land), baut Schiffe und Armeen, schliesst Bündnisse, Heiraten mit anderen Herrscherhäusern, führt Krieg, schickt Händler aus, kolonisiert 'freie' Provinzen und missioniert Ungläubige und Heretiker (wenn die Provinz den wahren Glauben hat, steigen die Produktionseinnahmen) oder wechselt, falls das durch Forschung erreichte Level von Government hoch genug ist, mal schnell per Mausklick die Regierungsform (von Nobelrepublik zu absoluter Monarchie oder von administrativer Republik zu revolutionärer Diktatur, usw.). Dabei muss er immer ein Auge auf die Stabilität des Landes halten, angezeigt durch Punkte von -3 bis +3. Sinkt sie zu tief, so treten mehr Rebellen auf, die dann wieder mit den Armeen des Landes niedergemacht werden müssen. Das Spiel ist so komplex, dass ich nach nun mehrwöchigem intensivem Spielen immer noch nicht alles durchschaue.
Der entscheidende Punkt ist: Das Spiel startet im Jahr 1399 und endet im Jahr 1821. Es umfasst also, auch nach Eigenwerbung der Macher, die Zeit des europäischen Aufstiegs. So muss der Spieler mit den Wirren der Reformation zurechtkommen wie auch mit dem steigenden Bedürfnis nach Kolonialwaren. Das Spiel gilt als das historisch korrekteste aller historischen Strategiespiele.
Solche Spiele sind aber mehr als nur Spiele. Sie beeinflussen unser Geschichtsbild. Das Bild das sie vermitteln ist dasjenige einer von oben gelenkten Geschichte, bei der jeder Widerstand (Rebellen) nur als störend empfunden wird. Selbst die Revolution erfolgt durch Mausklick des Staatslenkers, der dann immer noch an der Macht ist. Forschung etc. alles nur eine Frage der Investitionen und selbstverständlich der Tech group, der Zivilisation, der der Staat angehört. Nicht-Europäer sollten nach Möglichkeit den Prozess der Verwestlichung durchlaufen, also die Zivilisationsgruppe wechseln, um nicht noch mehr ins Hintertreffen zu gelangen. Nicht zufällig heisst das Spiel Europa Universalis.

Niall Fergusons Weltsicht wird dabei zutreffend abgebildet. China fehlen zwei "killer apps", nämlich democracy und competition, sagt er. Einfach hoffnungslos, diese Chinesen. Morgen mache ich sie mit meinen italienischen Armeen (Ich habe mit Florenz Italien vereinigt (nach Erfüllung gewisser Bedingungen erfolgt Mausklick auf "form Italy" was mir das Anrecht auf alle Provinzen gibt, die zum modernen italienischen Staat gehören (das habe ich im Jahr 1451 erledigt) nieder, erobere ihre fetten Provinzen und bekehre sie alle zum Katholizismus.

So sehr wie Ferguson glaubt, unterscheidet sich ein Computerspiel nicht von einem Roman. Der Ausgang ist nicht so offen. Ob Italien nun von Florenz, Mantua oder Mailand vereinigt wird ist dabei letztlich irrelevant. Der Spieler bewegt sich durch die Geschichte, die zwangsläufig auf denselben Bahnen verläuft, wie in der tatsächlichen Geschichte. Der Aufstieg Europas ist unaufhaltsam. Hello, Mr. Ferguson.

Spielerisch wird hier derselbe Eurozentrismus verbreitet, den Niall Ferguson in seiner Version des "Clash of Civilisations" vertritt. Und im Spiel ist auch bei Niall Ferguson der Eurozentrismus gekoppelt mit einem Geschichtsbild "von oben". Bei Ferguson sind es vor allem finanzpolitische Entscheidungen, die Aufstieg und Fall von Staaten bestimmen.
So ist es kein Wunder, dass Ferguson grossen Anklang findet, gerade in Wirtschafts- und Politikkreisen. Seine Vorlesungen hält er in grossen Aulas, seine Bücher sind Bestseller. Denn ihre Logik ist heute jedem einleuchtend, wird sie doch nicht zuletzt in Computerspielen reproduziert und verdoppelt. So wirkt Geschichtsschreibung dann für die grössten Geschichtsmuffel spannend.

Erstaunlich daran ist letztlich nur noch, dass Ferguson nicht gleich sagt, Geschichte sei ein Computerspiel. Die Sexiness von Computerspielen instrumentalisiert er hervorragend. So ist er auch stolz darauf ein Vertreter der "virtual history" zu sein, eines Feldes der Geschichtsschreibung, dass der Frage nachgeht, wie Geschichte hätte anders verlaufen könne. Dies dient allerdings wie im Computerspiel nur der Bestätigung, dass der Aufstieg des Westens unaufhaltsam war. Die Offenheit von Geschichte, die doch der Vergleich mit dem Spiel gerade hätte hervorheben sollen, wird so gleich wieder geleugnet.

Nicht Filme, sondern Computerspiele prägen heute unsere Wahrnehmung der Welt. (Das zeigt sich nicht nur in Niall Fergusons Erfolg, sondern auch darin, dass Filme in den letzten Jahren verstärkt auf Computerspiele referieren oder gar zum Computerspiel gedreht werden.) Aber die von Computerspielen produzierte Erzählung ist nur scheinbar offener, spielerischer. Die Logik von Computerspielen bleibt letztlich ebenso statisch wie die von Mainstream-Filmen.

Die Beschreibung von Geschichte als Computerspiel, ob nun zugegeben oder verkorkst verborgen, verrät nicht nur die Idee des Spiels, das sich doch gerade durch die Freiheit von äusseren Interessen auszeichnen soll. Sie verstärkt auch das Gefühl in einer alternativlosen Welt zu leben und wohl nicht zuletzt deshalb stösst ein solches Geschichtsverständnis bei Managern und Politikern auf so grosses Interesse.