Sonntag, 5. Juni 2011

Der postheroische Charakter

Der Soziologe und Psychoanalytiker Martin Dornes (Institut für Sozialforschung, Frankfurt) greift in seinem aktuellen Essay „Die Modernisierung der Seele“ in der Zeitschrift Psyche eine Frage auf, die in umfassender Form zuletzt von Adorno und seinen kalifornischen Kollegen im Rahmen der Studies in Prejudice bearbeitet wurde: Die Frage nach der epochentypischen psychischen Grundverfassung der gegenwärtigen Gesellschaft. Wie Subjektivität in der Gegenwart beschaffen ist, ist eine der zentralen Fragen der Soziologie und zugleich kaum bearbeitet. Dornes hat den Mut, diese Frage zu stellen und sie umfassend zu beantworten - das allein verdient Anerkennung.

Dornes beschränkt sich methodisch zunächst auf die Frage, wie sich die Vermittlung von Subjektivität durch Erziehung verändert hat und konstatiert hier einen Wandel zu einem „verhandlungsbasiertem Erziehungsstil“, der nicht mehr zu Gehorsam und Unterordnung führen soll, sondern Selbstständigkeit zum Erziehungsziel erklärt. Resultat dieses Erziehungsstils ist ein Charaktertypus, den Dornes als postheroisch bezeichnet und welcher durch eine ambivalente Struktur aus Freiheit und Verletzlichkeit charakterisiert ist. Der Typus heißt „postheroisch“, weil er sich „von einer ‚heroischen‘ Unterdrückung eigener Impulse ebenso verabschiedet hat wie von einem heroischen Aus- und Durchhalten einmal getroffener (Lebens-)Entscheidungen“ (p. 1009). Dieser neue Charakter ist „entkrampft“ und kann innere Widersprüche deutlicher wahrnehmen und zwischen den psychischen Instanzen sensibler vermitteln (Dornes spricht von einer „kommunikativen Verflüssigung des psychischen Apparats“). Gleichzeitig produziert diese „Entkrampfung“ auch ein höheres Maß an Unsicherheit und „Störanfälligkeit“.
Die typische Krankheit dieses Charakters ist die Depression, eine Überforderung durch gesteigerte Anforderungen, Ansprüche und Selbstverwirklichungsnormen. Im Gegensatz zu früheren autoritären Charakterformationen, die durch Schuld, Verbot, Rigidität und Unterdrückung charakterisiert waren, haben sich die repressiven Mechanismen verlagert: „Man fürchtet nicht mehr so sehr, vor Verbotsnormen zu versagen, sondern vor Kompetenznormen (wobei letzteres auch wieder schuldhaft zugerechnet werden kann). Strafangst wird von Versagensangst abgelöst, Schuld von Scham und Zweifel überlagert.“ (p.1025)

Dornes These ist eindrucksvoll und vielen Punkten sicher treffend, trotzdem möchte ich im Folgenden einige Kritikpunkte und Fragen formulieren. So hat man z. B. immer wieder das Gefühl, einem wird die neofrankfurter Kommunikationsthese untergeschoben, auch wenn es sachlich gar nicht richtig passt. Das Feld, auf dem die psychischen Instanzen miteinander ringen, werde „kommunikativ verflüssigt“, auch die Erziehung erhalte einen stärker „kommunikativen-verhandlungsorientierten“ Charakter. Damit wird immer eine entmaterialisierte, gesellschaftsfreie Sphäre eingeschoben, in der Macht, Unterdrückung und Normierung nicht existieren. Die eigentlich interessanten Dynamiken geraten dabei aus dem Blick.
Außerdem, und das ist der eigentlich problematische Punkt, betreibt Dornes etwas, das man als eine „Reinigung von Begriffen“ (jw) bezeichnen könnte - Erziehung, psychischer Apparat, Sozialcharakter, Entsublimierung etc. - kritische Begriffe oder gesellschaftliche Vorgänge, die mit Unterdrückung, Gewalt, Standardisierung und Repression verbunden waren/sind, wäscht Dornes sauber, nur ein paar „Ambivalenzen“ trüben das Bild noch ein wenig. Und die Alternative zu diesem Reinwaschen muss nicht, wie Dornes nahelegt, in kulturpessimistischen Verfallsthesen enden.
Ebenfalls fragwürdig erscheint Dornes parallel entwickelte soziologische Diagnose von Unsicherheit, steigendem Risiko, sinkendem Zusammenhalt etc. Das Grundproblem der Gesellschaft heute sei, „dass … individuelle Selbstorganisation an die Stelle des ausgedünnten sozialen Außenhalts treten muss, den traditionale Gesellschaften noch bieten“ (p.1011) - als soziologische Gegenwartsdiagnose taugt das, nach über 200 Jahren moderner Gesellschaft, kaum.
Viele weitere Fragen lassen sich an Dornes Thesen stellen: Wie ist der von ihm beschriebene Sozialcharakter klassenspezifisch verteilt? Welche Unterschiede gibt es zwischen Männern und Frauen und hat die Bezeichnung „postheroisch“ einen androzentrischen Bias? Wie ist die hohe Funktionalität dieses Charaktertypus im ökonomischen Verwertungsprozess mit seiner (vermeintlich) befreienden Wirkung zu vermitteln? Ist die idealtypische Darstellung eine Notwendigkeit und ein Gewinn oder ist sie zu abgehoben von der Empirie?

Der Artikel in der Psyche ist eine Zusammenfassung eines Buches, das Dornes demnächst mit dem gleichen Titel veröffentlichen wird - vermutlich wird er dort einige der hier aufgeworfenen Fragen beantworten. Im gleichen Heft der Psyche finden sich zwei kritische Kommentare zu Dornes Aufsatz von Vera King und Udo Hock.

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