Freitag, 17. Juni 2011

So viel Urlaub! Cees Nooteboom, Tourist


"Eines Tages habe ich meinen Rucksack gepackt, Abschied von meiner Mutter und den Zug nach Breda genommen, mich an der belgischen Grenze an den Strassenrand gestellt und den Daumen hochgestreckt. Und ich bin eigentlich nie mehr zurückgekehrt."

Und Cees Nooteboom reist immer noch, auch mit inzwischen fast achtzig Jahren. Warum? Einerseits lebt er davon. Zwar möchte er gerne als Dichter anerkannt werden, bekannt ist er aber vor allem als Reiseschriftsteller, besonders in Deutschland, dem Land seiner grossen Erfolge. Hier ist der Niederländer Nooteboom in den letzten Jahrzehnten zum meistgelesenen Reiseschriftsteller avanciert. Aber solch niedere, pekuniäre Motive sind eines Schriftstellers selbstverständlich nicht würdig. Nooteboom antwortet selbst auf die Frage, warum er reist, so auch im Buch"Geflüster auf Seide gemalt. Reisen in Asien", in dem Texte aus vier Jahrzehnten (70er-00er) versammelt sind. Letztlich kreist jeder dieser Texte, obwohl aus so verschiedenen Zeiten, um die eine Frage, warum Mijnheer Nooteboom reist. Immer wieder stellt er die Frage auch explizit und die Antwort bleibt sich stets gleich,



ob in Borneo:

"Im günstigsten Fall bin ich ein Kontrolleur der Wirklichkeit. Landkarten lösen ein Bedürfnis aus: Wer beweist, dass dort, an diesem merkwürdigen Ort auf jener fernen Insel in jenem anderen Teil der Welt, wirklich Menschen wohnen, wer beweist, dass es den Ort überhaupt gibt? Warum sollte der Time-Life-Atlas keine von einem Verrückten erdachte geniale Lüge sein?" (191)


Oder Japan:

"Was ich mache, kann man kaum noch als Reisen bezeichnen, da wird nichts mehr entdeckt, sondern es wird geprüft, kontrolliert, bestritten und bestätigt, Bilder und Vorstellungen werden an der 'Wirklichkeit' gemessen, was ich letztlich tun werde, ist, nachzuschauen, ob es Japan überhaupt gibt, so als würde ein Zuschauer im Kino in die Leinwand steigen, um sich zu den Hauptfiguren an den Tisch zu setzen." (8f.)
Nooteboom überprüft, kontrolliert, ein reisender Buchhalter ("Für die Allgemeine Buchführung des Alls schreibe ich meinen Namen in das Gästebuch", 209), verfolgt von der Angst betrogen worden zu sein. Brav stellt er sicher, dass die Welt auch dem massenmedial vermittelten Bild entspricht, das er von ihr hat. Wenn die real existierende Welt ihm dann doch zu nahe rückt, sei es nur in Form der Mühen einer Flugreise, beschwert er sich:

"Dass mich das Fliegen noch immer nicht unberührt lässt, kann ich nicht ändern. Diese paar äusserlich so faulen Stunden zwischen West und Ost sind die Druckkammer, worin der Reisende auf das noch immer sehr Andere vorbereitet wird. Manche schlafen sich nach Asien hinein, andere trinken sich aus Europa hinaus, bei mir führt das Fliegen zu dieser zaghaften Form der Meditation. {dem Zeitungslesen, st}"
Dass ihn das Fliegen noch immer nicht unberührt lässt, kann er nicht ändern. Es ist ein Kreuz. Obwohl die immergleichen Flughäfen den Charme einer Klink bieten, eine keimfreie, von Störungen freie Reise zu versprechen scheinen, berührt ihn das Fliegen. Dabei will er nur seine Ruhe haben, auch wenn er in Borneo aus dem Fenster eines Buses blickt:

"Menschen fügen sich in die Landschaft ein, die zu ihrem Leben gehört, und ich fahre rüttelnd und schüttelnd durch dieselbe Landschaft, die nicht die meine ist, auf dem Weg zu einem Berg, mit dem ich keine Verabredung habe." (205)
Die Menschen, die an den von Nooteboom besuchten Orten leben, fügen sich ein, sind für ihn Teil der Landschaft, einer Landschaft, die "der Fotoapparat, der ich immer so freudig bin" (211) mit einem lauten Klicken festhält.

"Menschen stehen wie Denkmäler wartend in der Landschaft, die Oberfläche der kleinen Flussläufe ist aus glattpoliertem Marmor." (190)
Diese Menschen betrachtet er aus den Fenstern von Bussen, Zügen, Hotelzimmern oder sogar Flugzeugen. Die folgende Passage steht exemplarisch für seine Wahrnehmung der Bewohner von ihm bereister Orte:

"Während des Landeanflugs in Malaysia spielt der Reisende ein Spiel mit sich selbst: Welches werden die ersten Leute sein, die er in Südostasien, wo er noch nie gewesen ist, sehen wird? Das Flugzeug geht über einem dichten wilden Wald von der Sorte Grün tiefer, das an Kriegsfilme aus dem Pazifik erinnert, weil es auch da schon als unecht empfunden wurde. Es ist also echt, eine scheussliche, unfriedliche Farbe. Ich sehe einen vierspurigen Highway mit Autos, niemand ist zu Hause geblieben, alles stimmt, die Welt funktioniert. Kurz bevor wir landen, entdecke ich auf einer Waldlichtung – Hacken oder Besen in der Hand, neben einem kleinen unscheinbaren Holzhaus oder, besser gesagt, einer Hütte – einen Mann und eine Frau. Das waren sie also. Sie sehen mich nicht, sie sehen nur ein grosses Flugzeug." (179)

Sie sehen ihn nicht, nur die riesige Maschine, er sieht sie als Teil der Landschaft durch sein Fenster. Die Welt, die Nooteboom sieht, erinnert an jene Dokumentarfilme, die stets den Verdacht erwecken, sie seien von der Tourismusindustrie gesponsert. Den Menschen selbst und der Welt, die sie erschaffen, bleibt er fern. Wenn er sich mal mit ihren Bewohnern unterhält, dann mit holländischen Mitarbeitern von Shell auf Borneo, Karikaturen von Kolonialbeamten, die er im Pub beim Bier kennenlernt. Ansonsten hält er Erfahrungen auf Distanz, abgeschirmt durch eine gläserne Scheibe. Nooteboom mag, wie die Verlagswerbung verspricht, ein "Meister der Nebenrouten" sein. Aber auch Nebenrouten sind touristische Pfade, auf denen man von 'Sehenswürdigkeit' zu 'Sehenswürdigkeit' fahren kann. Die Einwohner interessieren dabei nicht, es sei denn es handle sich um 'Eingeborene', die in ihrem Langhaus Touristengruppen empfangen (194ff.). Nooteboom schaut auf diese

"leise sprechenden, sirih kauenden, sich gemächlich bewegenden Gestalten, als wären sie im Besitz eines Geheimnisses, das uns irgendwo, vor langer Zeit, in irgendeinem schrecklichen Kaufhaus der Geschichte abhanden gekommen ist. Die Zeit rinnt hier durch eine andere, langsamere Sanduhr, gleich verschwinden wir wieder mit unserem Raumschiff, sie bleiben da und vergessen die Anekdote, die wir sind, und leben ihr von den Gesetzen der Tradition, des Urwalds und des Flusses bestimmtes Leben. Mit begehrlichen Blicken schielen wir auf die Gegenstände, alle von Händen gemacht, aus Schilf geflochten, aus Holz gehauen, Körbe, Netze, Stössel,parangs, Decken, Ringe, aber unsere Begehrlichkeit ist die Begehrlichkeit von Menschen, die nie mehr etwas selbst machen, geschweige denn es verzieren und das schlägt auf uns zurück in Form von Sehnsucht, und Sehnsucht ist es, die uns begleitet, als wir wieder klappernd über die kleinen Bretter des ruaihinunterklettern, wobei sich jeder vom anderen absondert, als wolle er eine eigene Erinnerung mitnehmen, ein definitives, bewahrbares Bild, eine junge Frau, die am Fluss Wasser holt und uns nicht ansieht, einen Mann, der ein Messer an einem Stein wetzt, herumwuchselnde kleine Schweine unter dem Langhaus, das säuselnde Geräusch von Reis, der in Körbe gesiebt wird, das grelle Aussenlicht, das nach innen hin gefiltert sanft wird." (197f.)

Die vor Bluthochdruck warnenden Plakate des roten Kreuzes an der Wand des Langhauses hingegen scheinen ihm ein Fremdkörper. Antimodernes Ressentiment ebenso wie das koloniale Moment am Tourismus treten bei Nooteboom deutlich hervor. Birma besteht für ihn aus ein paar Schlagworten und pittoresken Exoten:

"Alt, heilig, Stille, Hitze, das sind die Schlagworte, und dazwischen die bewegten Bilder der Birmanen vor der allesbeherrschenden Lichtkulisse." (111)

Und Birma ist noch mehr, nämlich
"das Wissen, dass diese Welt da nicht so bleiben wird, dass der Schleim raubgieriger Vulgarität auch sie überziehen wird, die masslose Langeweile des Geldes, die wahre Völkerscharen in die letzten noch nicht verdorbenen Winkel der Erde treibt, um dort den Wunsch nach Unschuld gegen deren Verderb einzutauschen." (111f.)

Nooteboom schreibt für Touristen der gehobenen Mittelschicht, für diejenigen die sich ihres Gewissens gewiss sind. Nicht für den Pöbel, diese Massentouristen, diese "Schmeissfliegen". Nooteboom bewegt sich schliesslich auf 'Nebenpfaden', auf jenen Pfaden deren Betreten noch der Distinktion dienlich ist, die durch vorgebliche Gewissensbisse noch verstärkt wird.

"Ich bin nicht der dumme Tourist, ich lasse mich nicht wie ein Schwarm Schmeissfliegen durch die Uffizien oder die Akropolis scheuchen, ich lasse mir Zeit, ich vertiefe mich in die Materie, ich will notfalls wie Staub im Stein verschwinden, um wirklich dort sein zu dürfen, aber die Wahrheit bleibt: Dadurch, dass man irgendwo auftaucht, verändert man das Irgendwo, wo man auftaucht ... Mit diesem Widerspruch muss ich leben." (112)

Doch auch wenn Nooteboom sich Zeit lassen will, Verweilen ist nicht gestattet. Gern würde er mit seiner Familie im Café eines kleinen birmesischen Dorfes sitzen bleiben,

"doch sie wissen, dass das unmöglich ist, dass ein Tag mit Landschaften voller Gewalt und Majestät folgen wird und am Ende der Fahrt: Pagan." (117)

Das Dorf ist keine 'Sehenswürdigkeit', nur ein Zwischenstop des Busses, wo sich die Reisegesellschaft kurz die Beine vertreten darf. Nooteboom flieht die moderne Welt, sucht 'authentische' Erfahrungen auf abgelegenen 'Nebenpfaden', scheut aber zugleich vor konkreten Erfahrungen zurück, duckt sich hinter seine gläserne Scheibe und schaut scheu auf die 'Landschaft', jene exotischen Bilder, die das europäische Publikum schon lange begeistern. Sein Hunger nach Erfahrungen wird so stets erneut enttäuscht. Aber das widerspricht sowohl seinen eigenen wie auch den Erwartungen seines Publikums. Nooteboom versucht diesen Mangel wettzumachen durch 'Reflexion'. Einerseits durch 'Hintergrundinformationen', Passagen über die Geschichte und Politik des Landes das er bereist, die an landeskundliche Abschnitte aus Reiseführern erinnern. Andererseits durch vulgärphilosophische Überlegungen. Der Besuch eines Nationalparks im Urwald Borneos veranlasst ihn zu Ausführungen über die Inventarisierung von Pflanzen (209f.), das Nationalmuseum von Malaysia inspiriert ihn zum Ausspruch die Geschichte sei ein gieriges Monster (185) (er bezieht sich dabei auf den Untergang des englischen Kolonialreichs, auf die Kolonialisten, nicht auf die Kolonisierten). Zum Begreifen der bereisten Orte sind diese 'Reflexionen' etwa so ergiebig wie ein Saufabend mit einem Rucksacktouristen, das Versprechen auf Reflexion lösen sie nicht ein.
Aber die Texte sollen dem Leser doch Distinktion vermitteln. Wenn der Inhalt sie nicht liefern kann, muss die Sprache herhalten. In Birma, dem Land brutalster Diktatur, gelingt es Nooteboom zu schreiben: "Wo wir anlegen, warten Soldaten mit gewaltigen Schnürstiefeln in den zarten Händen." (96) Oder "Die Gebäude sind golden und silbern und bonbonfarben bemalt und mit Spiegelstücken und farbigem Glas besetzt; würde man daran lecken, hätte man den Geschmack von Zucker auf der Zunge." (96) Nein, hätte man nicht. Aber "ich nehme die Bilder in mir auf, die man sieht, wenn die Welt ausgerollt wird ... ein grauer Lichtpuder liegt über allem, Ochsen, Hütten, gemarterten Bäumen." (102f.) Die Sprache schlägt Purzelbäume bis ihr schwindlig wird und sie in die Kitschfalle stolpert. Auch sie vermag ihr Versprechen letztlich nicht einzulösen.
Gerade in all diesen Enttäuschungen repräsentiert Nooteboom die Touristen der gehobenen Mittelschicht. Stellvertretend für andere Vertreter dieser Schicht kontrolliert Nooteboom die Welt, letztlich ist er wohl doch nicht Buchhalter, sondern Mitarbeiter im mittleren Management des Grossunternehmens Tourismus, Abteilung Controlling. Jene Schicht möchte sich, wie Nooteboom es ausdrückt, "eine Empfindung gönnen" (188). In Nootebooms Texten findet sie sowohl das Versprechen darauf, wie auch die vertraute Enttäuschung, die jene ebenfalls vertraute Angst, betrogen worden zu sein (von Nooteboom selbst ausgedrückt), bestätigt. Die Welt bleibt in Ordnung und sie zu akzeptieren wird erleichtert durch das Gefühl, den Ausbruch gewagt zu haben:

"Der Autobus, der uns zum Terminal bringt, ist rot. Ich steige durch die Tür mitKein Einstieg ein und setze mich auf den Platz für Kriegsversehrte. Solche Dinge sind es, die einen die Welt begreifen lassen." (176)

So viel Urlaub! Was soll man bloss damit machen?

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