Donnerstag, 28. Juli 2011

Kreation und Depression

Das Buch „Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus“ von Christoph Menke und Juliane Rebentisch präsentiert eine Sammlung von Beiträgen, die versuchen, sich begrifflich der gegenwärtigen Form des Kapitalismus anzunähern oder wie es die Herausgeber formulieren:

„Im Zentrum des Bands steht ein Befund gegenwärtiger Gesellschaftskritik: Eigenverantwortung, Initiative, Flexibilität, Beweglichkeit, Kreativität sind die heute entscheidenden gesellschaftlichen Forderungen, die die Individuen zu erfüllen haben, um an der Gesellschaft teilnehmen zu können. Sie haben das alte Disziplinarmodell der Gesellschaft ersetzt, ohne dabei freilich die Disziplin abzuschaffen. An die Stelle einer Normierung des Subjekts nach gesellschaftlich vorgegebenen Rollenbildern ist der unter dem Zeichen des Wettbewerbs stehende Zwang zur kreativen Selbstverwirklichung getreten. Man gehorcht heute nicht mehr, indem man sich einer Ordnung unterwirft und Regeln befolgt, sondern indem man eigenverantwortlich und kreativ eine Aufgabe erfüllt. Im Blick auf häufig wechselnde ‚Projekte‘ sollen die Einzelnen ihren eigenen Neigungen folgen, um sich jeweils ganz – mit allen Facetten ihrer Pers önlichkeit – ‚einzubringen‘. Es scheint, dass sich Einstellungen und Lebensweisen, die einmal einen qualitativen Freiheitsgewinn versprachen, inzwischen so mit der aktuellen Gestalt des Kapitalismus verbunden haben, dass daraus neue Formen von sozialer Herrschaft und Entfremdung entstanden sind.“ (S.7)

Mittwoch, 27. Juli 2011

Neues von den Evangelikalen?

Marcia Pally – Kulturwissenschaftlerin und regelmäßige Kolumnistin in der Frankfurter Rundschau hat ein Buch über die „Neuen Evangelikalen“ in den USA geschrieben. Die Rezension auf hsozkult.de klingt zunächst auch ganz spannend: Neben einem historischen Überblick über die Evangelikale Bewegung in den USA, der sich insb. ihren politischen Bestrebungen widmet; und einem längeren Exkurs über das Verhältnis von Staat und Kirche ist der Kern des Buches eine Sammlung von Interviews mit verschiedenen Vertretern des liberalen Flügels der Evangelikalen.

Problematisch an Pallys Buch scheint der Versuch, zu zeigen, dass auch religiöse Bewegungen einen Beitrag zur politischen Liberalisierung leisten können (die FAZ spricht von message overkill). Hierfür hätte Pally auch ein Verweis auf die Anfänge der Evangelikalen Bewegung gereicht, die sich stark gegen Sklaverei und Rassentrennung, für soziale Hilfsleistungen usw. eingesetzt hat. Auch im 20. Jhdt. gab es schon eine Bandbreite von evangelikalen Gruppierungen, die nicht mit dem hegemonialen Bild der christlichen Rechten übereinstimmten (u.a. gibt es seit Jahrzehnten Zusammenschlüsse evangelikaler Homosexueller). Insb. vor dem Hintergrund eines historischen Abrisses der evangelikalen Bewegung in den USA überrascht Pallys Ansinnen ein wenig: schon auf Grund der Pluralität religiöser Formen in den USA und des mangelnden Schutzes durch den Staat, der zwar Religion per se als wichtig anerkennt, jedoch keine einzelne Kirche zur Staatskirche macht, waren di verschiedenen Denominationen auf einen offenen Wettbewerb um Mitglieder und die Anerkennung demoratischer Umgangsformen angewiesen. Hier mag auch Pallys Exkurs zum Verhältnis von Staat und Kirche, der sich – so die Rezension – sehr stark auf Europa bezieht zur Verzerrung beitragen.

Interessant scheint mir v.a. das Interviewmaterial, denn das offene Bekenntnis zu liberalen Zielen, wie es sich im Evangelical Manifesto von 2008 äußert – und das einer der Ausgangspunkte des Buches ist – scheint schon anzuzeigen, dass sich etwas tut in der evangelikalen Landschaft.

Was im Buch jedoch zu fehlen scheint ist ein Verweis auf die Tea Party Bewegung, die m.E. gar nicht mehr darauf hinzuweisen braucht, dass sie evangelikal/christlich ist und einen großen Teil des – vormals in der New Christian Right aufgehenden – konservativen Ressentiments auffängt.

(Dass gerade Pally den Versuch macht die Religion als Teil einer liberalen Agenda zu präsentieren, überrascht ein wenig in Anbetracht ihrer Beiträge in der Frankfurter Rundschau, da sie sich dort oft große Mühe zu geben scheint, der linksliberalen Leserschaft zu bestätigen was sie eh schon über die USA weiß.)

Montag, 18. Juli 2011

Adorno vs. Gehlen

Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen in einem TV-Steitgespräch aus dem Jahr 1965. Leider ist die Qualität sehr schlecht. Das Thema lautet: Institution und Freiheit.

Gehlen: Ja, ich würde nicht einmal sagen, Herr Adorno, ich gebe Ihnen das zu, nicht wahr, die Normen, die Einstellungen, die Vorstellungen, die in diesen Institutionen sozusagen auf alle verteilt sind, die leben auch in jedem Einzelnen, unmittelbar, nicht wahr, dann darin, das ist richtig und das kann man untersuchen. Das sie nun gleich ihm von innen her als eine fremde und bedrückende Macht entgegentreten, würde ich gar nicht mal ohne Weiteres unterstellen, das kann vielleicht vorkommen unter besonderen Umständen...

Adorno: Ja, nicht ohne Weiteres, aber mit Weiterem.

Soziologisches Streitgespräch Adorno vs. Gehlen 1965 from Berenike Eimler on Vimeo.

Donnerstag, 14. Juli 2011

Bon 14 Juillet!


"Solange die Sonne am Firmament steht und die Planeten um sie kreisen, war das noch nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, d. i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. Anaxagoras hatte zuerst gesagt, das der nous, die Vernunft, die Welt regiert; nun aber ist erst der Mensch dazu gekommen, zu erkennen, daß der Gedanke die geistige Wirklichkeit regieren solle. Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen." (Hegel, Vorlesungen über Philosophie der Geschichte, stw, p. 529)

Dienstag, 12. Juli 2011

Andrei S. Markovits - Die Feminisierung eines globalen Sports

Der Politikwissenschaftler und Soziologe Andrei S. Markovits hält einen sehr schönen Vortrag über Gender und Sport vor dem Hintergrund der Frauen-Fußball-Weltmeisterschaft - mit einem Blick auf historische und transatlantische Differenzen. Mein Eindruck ist allerdings, dass er mehr Fragen aufwirft als Antworten zu geben, was den Vortrag aber nicht weniger interessant macht. Hier hat die Böll-Stiftung den Vortrag zum Anhören dokumentiert.

Bewegte Bilder

Hier eine m.E. sehr gut gemachte Gegenüberstellung der Arbeiten von Stanley Kubrick und Martin Scorsese. Auch wenn die Gegenüberstellung den Anschein erweckt beide Regisseure seien sich sehr ähnlich, finde ich die Reduktion auf kurze Szenen, Bildaufbau, Kameraeinstellungen - also die visuellen Momente des Kinos - klasse. Wenn es im Kino nur um die Stories ginge könnte man sie auch aufschreiben...

Montag, 11. Juli 2011

"Das Sich-nicht-Einmischen ist etwas, das man als urbane Tugend bezeichnen kann"

Etwa einen Monat nach dem Gentrifizierungspost fand sich in der NZZ diese Interview mit Jan Wehrheim, Soziologe in Oldenburg und Hamburg, zum selben Thema. Die Unaufgeregtheit, mit der er die Schattenseiten als notwendigen Teil städtischen Lebens annimmt, finde ich erst einmal sehr sympathisch. Vor allem, wenn in den Kommentaren zum Artikel die Sorge um den Müll die größte ist oder versucht wird, der von Wehrheim angeführten "resignierten Toleranz" zu unterstellen, sie sei bereit jede Gewalttat in der Öffentlichkeit hinzunehmen.
Spannend finde ich auch den Hinweis darauf, dass die zunehmende Kontrolle des öffentlichen Raums mit einer zunehmenden Heterogenität der Städte einhergeht - und es ist hier gerade nicht gemeint, dass z.B. Migranten, randalierende Jugendliche o.ä. die Kontrollen notwendig machten, sondern, dass es die zunehmend in den innerstädtischen Raum ziehenden Mittelschichten sind, die nach ihnen verlangen (z.B. um von Müll unbehelligt um den Zürich-See joggen zu können, wie es einer der Kommentatoren einfordert). Gleichzeitig ist damit von Wehrheim impliziert, dass die Segregation von Städten zwar umfassender wird, nicht jedoch, dass sie neu sei. Während früher Bürger durch die Innenstädte flanierten und das Proletariat in den ihm zugewiesenen Vierteln blieb, werden die Innenstädte jetzt zum Begegnungsort vermeintlich inkompatibler Lebensentwürfe.
Dass mit dem Versuch, dieser Konflikte durch Überwachung, Kriminalisierung und Verdrängung Herr zu werden, auch das produktive Moment städtsichen Lebens verdrängt wird, ist der Kern des Interviews.

Sonntag, 10. Juli 2011

Alain Ehrenberg - Das Unbehagen in der Gesellschaft


Der französische Soziologe Alain Ehrenberg hat vor schon zwölf Jahren mit seinem Buch „Das erschöpfte Selbst“ die These formuliert, dass Subjektivität heute durch eine depressive Struktur gekennzeichnet sei und eher an Verantwortung und Freiheit leide als an Verbot und Autorität. Diese These ist inzwischen in den Common Sense eingegangen und nicht selten wird sein Buch zum vermeintlichen Beleg einer diffusen Zeitdiagnose herangezogen. Trotzdem ist die Frage, wie Freiheit und Repression sich in neuen Formen von Subjektivität ergänzen, zentral für die Analyse der neuen Gesellschaft. Nun hat Ehrenberg das Thema in einem 500 Seiten Werk mit dem Titel „Das Unbehagen in der Gesellschaft“ erneut aufgegriffen und analysiert es in einer transatlantischen Perspektive.

Der Tenor des Feuilletons ist ambivalent, hier eine Zusammenstellung der Rezensionen:

Jammern auf hohem Niveau (FR)
Leiden gehört zur Demokratie (Taz)
Vom Zwang, ein Ich zu sein (SZ)
Die Schwierigkeit, gesund zu sein (NZZ)

Der Suhrkamp-Verlag hat eine recht lange Leseprobe auf seine Seite gestellt, die man hier einsehen kann.

Sonntag, 3. Juli 2011

Freud's English discontents

This is principally in response to st's post Seekrank über den Atlantik: Freud auf Englisch.

The malaise of Freud's English translations, if it is to be addressed as such, is actually of a much shorter passage within the Old World. James and Alix Strachey, the famous British psychoanalyst couple (although Alix was born in the US, she’d studied in Britain) started translating Freud at his request in Vienna, and are still considered to be the translators of the most complete Freud edition in English. The effective political/intellectual context for Freud’s English translations is the fascinating – productive even though complicated – encounter between the Bloomsbury Group and Freudian psychoanalysis that began in the years preceding the First World War and continued into the twenties. The correspondence between the Stracheys from the mid-twenties provides an interesting insight into the early English absorption of psychoanalysis.

But, James Strachey also happens to be the much revered general editor of the Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud, and the irony is that his initial editorial selections form the basis for many of the modern German language Freud editions, viz. the Studienausgabe.

Freitag, 1. Juli 2011

Konferenz-Dokumentation: Traditionalität und Aktualität. Zur Aufgabe kritischer Theorie

Im März fand in Marburg eine Konferenz aus Anlass des 100. Geburtstags von Heinz Maus statt - ein in Vergessenheit geratener Marburger Soziologe, der irgendwo zwischen Marxismus und Kritischer Theorie einzusortieren wäre. Insider kennen ihn als Herausgeber soziologischer Standardwerke im Luchterhand-Verlag (Marcuse, Löwenthal, Mannheim usw.).


Die Konferenz nahm aber Maus Geburtstag eher zum Anlass die Kritische Theorie auf ihre Aktualität hin zu befragen, zusammen mit unterschiedlichen Vertretern dieser Theorietradition. Die Konferenz stieß auf großes studentisches Interesse und es wurde lebhaft und kontrovers diskutiert - wer nicht dabei war kann die ganze Konferenz nun im Internet nacherleben und zwar hier.
Organisiert wurde die Tagung übrigens, wie sollte es anders sein, nicht vom Marburger Institut für Soziologie, sondern von einer studentischen Initiative.

Seekrank über den Atlantik: Freud auf Englisch

Beim Versuch Studierenden in der Türkei die Grundlagen der Psychoanalyse zu vermitteln, bin ich auf unerwartete Schwierigkeiten gestossen. Der englische Text von "Das Unbehagen in der Kultur" ist bereits im Titel abgeschwächt: "Civilization and its Discontents". Unzufriedenheiten und Unbehagen sind schon ein ziemlicher Unterschied. Jetzt ist mir klar, warum Löwenthal sich mit 'Malaise' behalf. Aber damit nicht genug. Wenn Es mit "id", Ich mit "Ego" und Über-Ich mit "Super-Ego" übersetzt wird, dann ändert die Psychoanalyse ihren Charakter. Durch die lateinische Übersetzung werden die psychoanalytischen Begriffe in eine distanzierte, wissenschaftliche Sphäre gehoben, ihr alltagssprachlicher Ursprung wird verleugnet und die Begriffe von alltäglicher Erfahrung abgeschnitten. Wir sagen ja "Es hat mich überkommen", oder "Es hat mich getrieben", nicht "id hat mich überkommen". Wir sagen "Ich liebe dich", nicht "Ego liebe dich" oder gar "Ego liebt dich", was dann schon an Robotersprache erinnert. Genausowenig hat das Über-Ich mit Superman zu tun, mit dem "Super-Ego" doch unweigerlich assoziiert wird. Vor diesem Hintergrund gewinnt dann auch die Übersetzung von Trieb mit "instinct" nochmal eine andere Bedeutung, jenseits dessen, das sie kreuzfalsch ist. Hier, genau wie mit "id, ego, super-ego" geht es letztlich darum, die Psychoanalyse zu entschärfen. Diese Begriffe bewegen sich in der gleichen Sphäre wie physikalische Weltbeschreibungen, sie sind Hilfskonstruktionen von Wissenschaftlern, verschrobenen Köpfen, die nach gängiger Meinung im normalen Leben nicht zurechtkommen. Indem die Psychoanalyse in diese Sphäre gerückt wird, erscheint sie bloss noch als interessante Theorie, mit dem Alltag jedes Einzelnen, an den sie doch gerade anknüpft und aus dem sie ihre Kraft zieht, hat sie nichts mehr zu tun.

Interview mit Dan Diner zur arabischen Revolution

Noch vor einiger Zeit hat Dan Diner ein Buch mit dem Titel "Versiegelte Zeit: Über den Stillstand in der islamischen Welt" veröffentlicht. Hier nun ein Interview mit ihm zum Arab Spring - sympathisch auch der Publikationsort.