Donnerstag, 28. Juli 2011

Kreation und Depression

Das Buch „Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus“ von Christoph Menke und Juliane Rebentisch präsentiert eine Sammlung von Beiträgen, die versuchen, sich begrifflich der gegenwärtigen Form des Kapitalismus anzunähern oder wie es die Herausgeber formulieren:

„Im Zentrum des Bands steht ein Befund gegenwärtiger Gesellschaftskritik: Eigenverantwortung, Initiative, Flexibilität, Beweglichkeit, Kreativität sind die heute entscheidenden gesellschaftlichen Forderungen, die die Individuen zu erfüllen haben, um an der Gesellschaft teilnehmen zu können. Sie haben das alte Disziplinarmodell der Gesellschaft ersetzt, ohne dabei freilich die Disziplin abzuschaffen. An die Stelle einer Normierung des Subjekts nach gesellschaftlich vorgegebenen Rollenbildern ist der unter dem Zeichen des Wettbewerbs stehende Zwang zur kreativen Selbstverwirklichung getreten. Man gehorcht heute nicht mehr, indem man sich einer Ordnung unterwirft und Regeln befolgt, sondern indem man eigenverantwortlich und kreativ eine Aufgabe erfüllt. Im Blick auf häufig wechselnde ‚Projekte‘ sollen die Einzelnen ihren eigenen Neigungen folgen, um sich jeweils ganz – mit allen Facetten ihrer Pers önlichkeit – ‚einzubringen‘. Es scheint, dass sich Einstellungen und Lebensweisen, die einmal einen qualitativen Freiheitsgewinn versprachen, inzwischen so mit der aktuellen Gestalt des Kapitalismus verbunden haben, dass daraus neue Formen von sozialer Herrschaft und Entfremdung entstanden sind.“ (S.7)

Die Beiträge des Buches sind fast alle in den letzten zehn Jahren schon an anderer Stelle erschienen, trotzdem ist es mehr ein bloßes Recycling-Projekt. Die Texte liefern jeweils eine pointierte Zusammenfassung aktueller Theoriepositionen, z. B. von Luc Boltanski, Éve Chiapello, Alain Ehrenberg und Axel Honneth. Die Stärke der Beiträge ist, dass sie Verhaltensweisen oder Ideologeme, die man gewohnt ist als widerständig zu deklarieren, kritisch hinterfragen und deren gesellschaftliche Funktionalität aufzeigen. Ein auf diese Weise umgekehrter Blick stellt Alltagsgewissheiten auf den Kopf und es erfordert geradezu einen subjektiven Lernprozess, sich an die neue Perspektive zu gewöhnen. Auch wenn man im Einzelnen oft widersprechen möchte (z. B. bei Bröcklings Versuch die Minima Moralia stilistisch zu imitieren), liefern die Beiträge einen Überblick zur französischen und zur neofrankfurter Debatte, der besonders Leser erfreut, die z. B. für das 700-seitige Originalwerk von Boltanski/Chiapello keine Zeit haben.

Der letzte Teil des Bandes dokumentiert einem Beitrag des Regisseurs René Pollesch, der die wissenschaftlichen Beiträge um einen künstlerisch-literarischen ergänzt, was eine viel zu selten praktizierte Besonderheit des Buches ist. Der Titel von Polleschs Beitrag lautet Lob des alten litauischen Regieassistenten im grauen Kittel und beschreibt, wie jemand, der gar nicht erst versucht, er selbst zu sein, damit etwas von sich retten kann; und wie ein anderer mit dem Versuch sich selbst zu verwirklichen, doch nur das Gegenteil erreicht:

„Er ist alt und trägt einen grauen Kittel und sein Selbst bleibt vollkommen unausgedrückt. Der holt mir keinen Kaffee und erzählt sich dabei eine Geschichte oder träumt von einem diffusen Bereich der allen offen steht. Der holt mir einfach nur meinen Kaffee. Der schreibt einfach seine Probenpläne. Sein grauer Kittel kann keine Geschichte erzählen einer Selbstverwirklichung. Dessen Selbst bleibt völlig unausgedrückt.
[…]
Wieviel mehr aber könnte der hippe Praktikant aus Entfremdung gewinnen. Daraus eben, nicht er selbst zu sein, und wenigstens Geld verdienen. Irgendwer muss dem erzählt haben, dass es ihn ernährt er selbst zu sein. In einer Sprache, die ihm nicht gehört, in der aber die Dinge lesbar sind für ihn.
[…]
Die Selbstverwirklichung weiss noch nichts von dem, dem alten Assistenten im grauen Kittel. Und er sieht auch nicht aus wie Brecht. Nein und das ist auch nicht Tragelehn.
Der gibt sein Leben einfach keiner heroischen Lebensweise. Der alte Mann. Der alte alte Regieassistent. Der macht seinen Assistentenjob. Der kann altern. Das ist keine Katastrophe für den, zu altern, der altert in einem klar definierten Job und nicht in einem diffusen Versprechen.
[…]
Ach, ich möchte zurück nach Litauen! Wenn die in Litauen im Kittel rumstehn und sind Regieassistenten die alt sind, und ihre litauische Regieassistenzarbeit machen, die kleine spröde Arbeit. Die haben kein Bedürfnis nach einem ‚interessanten‘ Job. Das ist so entlastend, Leute in der Nähe zu haben, die kein Interesse haben an einem ‚interessanten‘ Job! Was über uns hinausgeht ist nicht das Heroische. Was über uns hinausgeht ist das andere Leben. Etwas das von sich zeugt, ohne Ausdruck ohne Erinnerung“ (S. 243 ff)

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